Hallo miteinander,
der Mustang wurde als ein möglicher Band zur Lektüre vorgeschlagen. Weniger um eine Leserunde dazu zu erzwingen, als vielmehr aus Gründen der Aktualität und, um Überlegungen zu konservieren, die ich kürzlich andernorts dem Orkus übergab, mögen die folgenden mehr oder weniger sortierten Eindrücke hier als ein Anknüpfungspunkt für weitere Diskussionen dienen - oder auch nicht:
1) Sehr erfreulich ist der umfangreiche Apparat. Ich begrüße sehr, dass jedem einzelnen May-Text - und sei er noch so marginal - ein eigener Editorischer Bericht (künftig: E
gewidmet wurde und dasa vor allem die kleineren Arbeiten nicht in einem Abwasch zusammen behandelt wurden.
2) Technisches Problem: Die letzte Zeile auf Seite 465 ist nicht linksbündig.
3) Seite 465 und passim: Die Frage nach der Verstimmung, die zwischen May und Union herrschte, wird nicht hinreichend behandelt. Zum Schreib- und Entstehungsprozess gehören naturgemäß auch die Jahre mit Hängern auf Seiten Mays bzw. der Schreibverweigerung aus Protest. Es wird überhaupt nicht thematisiert, wer May in dieser Zeit im "Guten Kameraden" ablöste und ob die Substitution (neuen) Ärger ausgelöst haben könnte.
4) Seite 466: Der EB macht hier deutlich, dass Karl Mays Konzept für den Mustang sich offenbar nach dem dritten Kapitel änderte, dass danach zuvor gegebene Versprechen nicht gehalten und dafür gänzlich unerwartete Handlungsfäden neu gesponnen werden. Der EB benennt als Ursache dafür ausschließlich die auffällig lange Schreibpause. Ob es das alleine ist? "Der letzte Ritt" musste auch mit vielen Unterbrechungen klar kommen, geriet aber nicht so daneben. Wäre es denkbar, dass Karl Mays ursprüngliches Konzept sich über einen ganzen Jahrgang erstreckte und er die im Kopf bereits fertige weitere Romanhandlung nicht einfach kürzen konnte, sondern durch etwas anderes=neues ersetzen musste? Was war der tatsächliche Grund für die lange Schreibpause? Krankheit ist erkennbar nur Ausflucht -- zwei Jahre lang. Wer sollte das jemals geglaubt haben? Es muss eine ziemliche Verstimmung vorgeherrscht haben oder eine veritable Schreibblockade wie bei Old Surehand II/III.
5) Seite 468: Schön, dass auch solche formalen Auffälligkeiten wie der unterschiedliche Satz von Fußnoten Erwähnung sowie Erläuterung finden und auch zu Schlussfolgerungen Anlass geben.
6) Seite 468: Die von Roland Schmid erwähnten Belege und Dokumente wird es tatsächlich gegeben haben. Es scheinen ja alle Dokumente verschollen zu sein, die in den Anhängen der Fehsenfeld-Reprints faksimiliert wurden. Das wird ebenso für alle weiteren Dokumente gelten, die Roland Schmid zur Sichtung vorlagen und die dann in den Anhängen/Nachworten nur erwähnt wurden. Folgerichtig konnten Sudhoff/Steinmetz das Verschollene nicht verwenden und zitieren. Der EB liest sich nun aber so, als sei das Fehlen von Fundstellen in der Chronik ein Beweis für die Nichtexistenz der von Schmid erwähnten Belege/Dokumente, jedenfalls ein hinreichendes Indiz, diese ganz grundsätzlich anzuzweifeln. Da wird meiner Ansicht nach das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Vielleicht auch ist es nur deshalb so formuliert worden, weil das Verschwinden so wichtiger Nachlass-Stücke ein ziemlich peinlicher Umstand ist, den man lieber etwas freundlicher umschrieben sehen wollte. Wie auch immer: im EB scheint mir die Angelegenheit so nicht umfassend und damit ehrlich genug dargestellt. Man mag da verschiedener Ansicht sein.
7) Seite 469: "Unzufriedenheit mit den Honorarzahlungen" Was heißt das genau? War May mit der Honorarhöhe oder mit der Zahlungsmoral unzufrieden? Einige Briefzitate hätten das erläutern und illustrieren können.
8) Seite 470ff.: Zitierungen sind immer nett, aber dann doch bitte richtig (Bibliografie mit "f").
Was in der Frage der Datierung des "Mustang" als unglücklich anzusehen ist, ist der Umstand, dass die Angaben bei Plaul und Hermesmeier/Schmatz zusammengeworfen wurden, damit für jede einzelne Titelauflage eine Datierungszeile herausspringt. So liest es sich im EB so, als seien die ersten 10 Titelauflagen hübsch nacheinander auf den Markt gekommen. Das ist schon aus praktischen Erwägungen abwegig. Es wurden 10.000 Stück gleichzeitig hergestellt und - andere Auflagenziffer oder nicht - auch gleichzeitig auf den Markt gebracht. Wer sollte sich da die Mühe machen, das 6. Tausend erst anzubrechen, wenn das 5. komplett verkauft ist? Die Bücher waren verpackt. Man hätte hineinsehen müssen, um das überhaupt zu bemerken! Dementsprechend hat man für die EN-Meldung im Börsenblatt auch ein beliebiges Exemplar eingeschickt, was bei der EA eben zufällig die "Dritte Auflage" (= 3. Tausend) war und nicht das unnummerierte 1. Tausend. Man wird nicht gleich alle 10.000 Exemplare in den ersten zwei Monaten verkauft haben, und dementsprechend sind natürlich auch noch 1900 Exemplare der EA abgesetzt worden. Aber das Erscheinungsdatum ist nicht das Abverkaufsdatum, und müsste bei allen 10.000 mit November 1899 angegeben werden.
9) Seite 474ff-: Den Text kennt man in seinen Grundformulierungen (wenn auch nicht in den konkreten Beispielen) eigentlich aus allen anderen bisherigen Editorischen Berichten. Das zu lesen, ist ziemlich stereotyp. Kann man da irgendwann mal neue Formulierungen finden? Ich muss allerdings zugeben, dass ich eine ideale Lösung dafür auch nicht habe.
10) Seite 478, vorletzter Absatz. Hier sind zwei Textstellen erwähnt (nur markiert, nicht zitiert), die man in der Korrekturliste auf den Seiten zuvor nicht findet. Dass man zum Lesartenverzeichnis _vorblättern_ muss, um zu erfahren, worum es hier eigentlich geht, erschließt sich nicht automatisch, sondern frühestens nach dem zweiten Lesen. Vielleicht hätte man diesen Absatz doch besser hinter das Lesartenverzeichnis gesetzt und dann noch etwas mehr Butter bei die Fische gemacht.
11) Seite 479: Der Begriff "Vertauschung" für das _Aus_tauschen oder Auswechseln defekter Lettern scheint mir unglücklich gewählt und missverständlich. Beim ersten Lesen dachte ich, hier hätten Satzfehler durch die Vertauschung benachbarter Lettern vorgelegen. Erfreulich ist an dieser Stelle immerhin zu erwähnen, wie gründlich die Vergleichslesung offenbar gemacht wurde. Allerdings hätte ich schon gern erfahren, _was_ genau verglichen wurde. Es sind ja offenbar nicht alle Titelauflagen vergleichgelesen worden, sondern wohl insgesamt nur 4 Buchausgaben, jeweils ein Repräsentant pro Titelauflagen-Gruppe. Es hätte allerdings erwähnt werden müssen, welche Tausender verwandt wurden.
12) Seite 486: Wieder Zitierungsfehler (recte: Pr_ai_riebrände). Das wirft die Frage auf, wie zeichengetreu der "Mustang" wohl im Ganzen sein mag, wenn es schon bei Titelzitierungen nicht funktioniert.
13) Seite 492: Bei "Wasserrast auf dem Marsche" werden nur zwei von drei Reprints aufgeführt. Es fehlt der KMG-Reprint "Kong-kheou, das Ehrenwort" (1984; S. 321-323).
14) Seite 493: Bei "'Löffel begraben'" werden nur zwei von drei Reprints aufgeführt. Es fehlt der KMG-Reprint "Kong-kheou, das Ehrenwort" (1984; S. 324-325).
15) Seite 495: Hier finde ich erfreulich, wie souverän eine Entscheidung getroffen wurde, indem man nämlich konsequent handelte und "Ein Prairiebrand" gar nicht erst mit abdruckte. In anderen Zusammenhängen ließ man sich bisher gern ein Hintertürchen und alle Möglichkeiten offen, um ja nicht allzu brutal gehegte und gepflegte alte Überzeugungen komplett über Bord werfen zu müssen. So hat ja Christian Heermann sich in seiner May-Biografie um die Entscheidung herumgedrückt: war May nun blind oder nicht? Dass hier wirklich konsequent gehandelt wurde, findet meine ehrliche Begeisterung.
16) Seite 496: Bei "Prairiebrand in Texas" wird nur einer von zwei Reprints aufgeführt. Es fehlt der eigentliche Entdecker-Artikel in den Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft Nr. 102, S. 48-51 (1994). Der Entdecker Wilhelm Vinzenz hätte es ebenso wie wir verdient, im EB genannt zu werden.
17) Seite 501: Bei "Eine Seehundsjagd" werden nur zwei von drei Reprints aufgeführt. Es fehlt ausgerechnet der früheste, der KMG-Reprint "Der Schatz im Silbersee" (1987; S. 138–141/146–149/153–157).
18) Seite 503: Bei "Die beiden Kulledschi" werden nur zwei von drei Reprints aufgeführt. Es fehlt der KMG-Reprint "Der Schatz im Silbersee" (1987; S. 311–316).
19) Allgemein finde ich sehr positiv, dass auch die Illustrationen, zu denen May seine Texte quasi als Hausaufgaben schrieb, Erwähnung fanden, speziell, dass die Urheber eruiert, frühere Verwendungen der Bilder, soweit ermittelt, benannt werden und die Art der Verwendung durch May (in Auswahl bzw. Reihenfolge) diskutiert wird. Es scheint mir der erste Fall einer wirklich ernsthaften Beschäftigung mit diesen kleinen Arbeiten Karl Mays vorzuliegen.
20) Seite 506: M1 und M2 sind schöne Überraschungen. Man fragt sich, wie es überhaupt möglich war, diese Zettelchen im Nachlass zu finden.
21) Seite 511: Bei dem Grombacher-Brief wird nur einer von zwei Reprints aufgeführt. Es fehlt der KMG-Reprint "Kong-kheou, das Ehrenwort" (1984; S. 299).
22) Seite 513: Nun wird's mit den Reprint-Angaben aber richtig haarig. Bei "'Villa Bärenfett'" werden zwei Reprints genannt, davon ist einer gänzlich falsch, denn der Text ist nicht in der Bamberger "Sklavenkarawane" von 1975 enthalten. Dagegen fehlen der KMG-Reprint "Kong-kheou, das Ehrenwort" (1984; S. 319/320) und als drittes noch der Bamberger Union-Reprint "Der Sohn des Bärenjägers" (1995; S. A1/2).
Positiv zu vermelden ist, dass ein aufmerksamer Leser einen Teilnachdruck dieses Textes in den Leserbriefspalten des 9. Jahrgangs entdeckt hat, der dem Fokus bislang gänzlich entging.
23) Seite 516: Kontortionist: doch wohl recte: Kontorsionist?
24) Seite 517: Bei "Der Schlangenmensch" werden nur zwei von drei Reprints aufgeführt. Es fehlt ausgerechnet der erste, der KMG-Reprint "Der Schatz im Silbersee" (1987; S. 26/27/32/33/41/42).
25) Seite 519: Hier wird angegeben, die Union Deutsche Verlagsgesellschaft sei eine "Vereinigung der Verlage Spemann und Kröner ab 1.1.1890". Tatsächlich ist die Union aber eine Vereinigung dreier Verlage: Gebrüder Kröner, Wilhelm Spemann und Hermann Schönleins Nachf.
Fazit: Im Editorischen Bericht liegt eine umfassende, in Teilen sogar mit interessanten Neuigkeiten aufwartende Materialsammlung vor, deren Stärke darin liegt, dass man erstmals alle Arbeiten in einem Buch vereint findet und nicht mehr in zahlreichen Reprints der KMG oder des KMV das Gesuchte mühsam erblättern muss. Der gute Gesamteindruck wird allerdings durch erhebliche Mängel im bibliografischen Bereich getrübt. In diesem Punkt fällt der "Mustang" eindeutig hinter die gesetzten Standards von Wollschläger/Wiedenroth zurück, wenngleich man konzedieren muss, dass die Aufgabe beim "Mustang" ungleich unfangreicher war. Als wie gravierend diese Mängel angesehen werden, hängt vermutlich vom Blickwinkel resp. den persönlichen Interessenschwerpunkten des Lesers ab. Hier stecke ich aber nun mal in meiner Haut und kann (und will!) nicht raus.